Wie kam ich zum Erzählen?
Vermutlich startete ich den ersten Versuch, eine Geschichte zu erzählen, während meiner Geburt im Jahre 1964. Doch dieses ‚Licht der Welt‘ hat mich dermaßen irritiert, dass aus meinem Munde nur ein Schrei kam. OK. War vielleicht nur ein schlechter Start.
Während ich dann später zur Schule ging, trug ich zu verschiedenen Anlässen ein Gedicht vor und spielte als Jugendlicher gelegentlich für kleine Kinder den Weihnachtsmann, einen Clown oder einen Zauberer. So verspürte ich schon in jungen Jahren den Drang zu etwas, was man mit gutem Willen als ‚darstellende Kunst‘ bezeichnen kann. Doch statt einer künstlerischen, machte ich eine handwerkliche Ausbildung. Später machte ich dann mein Abi nach, hab studiert und viele Jahre als Angestellter gearbeitet.
Irgendwann besann ich mich wieder auf mein künstlerisches Interesse und habe kleine Rollen in Spielfilmen und Serien gespielt. Bis ich von der anderthalbjährigen Weiterbildung
Künstlerisches Erzählen - Storytelling in Art and Education
an der Universität der Künste in Berlin hörte. Auf diese bewarb ich mich und absolvierte sie in den Jahren von 2014 bis 2016. Seitdem bin ich Feuer und Flamme für das Erzählen und habe mir in meinem bisherigen beruflichen Umfeld Freiräume geschaffen, um mehr Zeit damit verbringen zu können.
Was fasziniert mich am Erzählen?
Schon während der Weiterbildung zum Geschichtenerzähler wurde mir bewusst, warum mir das Geschichtenerzählen so viel Freude bereitet:
- Die Geschichten verzaubern mich immer wieder, führen mich in eine andere Welt und geben mir einen Einblick in die sehr vielfältige Lebensweise verschiedener Kulturen.
- Während des Erzählens habe ich direkten Kontakt zum Publikum. Dieser verleiht den Erzählveranstaltungen eine eigene Atmosphäre und einen besonderen Charakter.
- Als Erzähler kann ich auf verschiedenen Ebenen sehr kreativ sein. Denn Erzähler sind Autoren, Regisseure und Darsteller in Einem.
- Die Möglichkeiten, die das Erzählen bietet, sind sehr vielfältig. So können Erzähler beispielsweise in Willkommensklassen und Flüchtlingsprojekten Menschen mit Sprachschwierigkeiten beim Erlernen der Sprache unterstützten.
Für Interessierte habe ich die beiden blau markierten Punkte etwas detaillierter ausgeführt.
Der Kontakt zum Publikum
Das Erzählen von Geschichten schafft eine einzigartige gemeinschaftliche Atmosphäre. Wie schon vor langer Zeit. Alle saßen in der Küche am Herd und Oma erzählte Geschichten aus früheren Tagen. Oder man saß in der Nacht draußen am Lagerfeuer und erzählte sich Schauergeschichten. Im Wirtshaus kamen Wanderer oder Handlungsreisende an und erzählten den Stammgästen Geschichten aus anderen Regionen. Man lauschte, lachte und staunte gemeinsam.
Dieses Gemeinschaftsgefühl kann man auch heute noch im Rahmen von kleinen oder auch größeren Erzählveranstaltungen erleben. Dazu bedarf es einer ruhigen Umgebung und eines direkten Kontakts zwischen Erzähler und Publikum.
Zum einen ist der Augenkontakt gemeint, der für das Erzählen unabdingbar ist, weil man in der Regel die Leute anschaut, denen man etwas erzählt. Darüber hinaus erfüllt der Augenkontakt zum Beispiel in der Arbeit mit Kindern noch eine weitere Funktion. Wenn man sieht, dass ein Kind abgelenkt ist oder verständnislos umherschaut, kann man umgehend entsprechend reagieren.
Zum anderen entsteht ein direkter Kontakt durch Interaktion.
Der Erzähler kann beispielsweise zu Beginn eines Programms die Zuschauer selbst zu Erzählern machen, indem er sie bittet, kurz die eigenen Erfahrungen zum Thema des Programms zu schildern. Während des Erzählens kann die Bindung dann immer wieder durch kleine Anmerkungen aufrechterhalten, aufgelockert, erneuert oder verstärkt werden. Beispiele für solche Einwürfe wären ‚ … Das könnt ihr euch doch vorstellen, oder? … ‘ ‚ ‚ … Wie würde man heute dazu sagen? …‘
Ebenso kann man an einem bestimmten Punkt einer Geschichte in eine kurze ‚Diskussion‘ zu einem Thema gehen und fährt anschließend mit der Geschichte fort.
Oder man kann die Zuschauer, insbesondere Kinder, zum Mitsingen oder zum rhythmischen Miterzählen bewegen. Für letzteres bieten sich insbesondere Kettenmärchen an, deren immer wiederkehrende Elemente sich jeder Zuschauer leicht merken kann.
Obwohl während des Erzählens im Kopf eines jeden Zuschauers dessen ‚eigene‘ Geschichte entsteht, teilen in der Regel alle Zuschauer die Emotionen, die der Erzähler mit der Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt hervorruft. Dies können dann glückliche oder auch traurige Momente sein. Wird es sehr spannend, ist es still im ganzen Raum. Unheimlich still. So still, dass man eine Stecknadel fallen hören würde.
Zum Schluss möchte ich euch noch einen besonderen Moment schildern, den ich im Rahmen eines Auftritts in einer Behindertenwerkstatt hatte. Der Raum war mit nahezu 80 Menschen gefüllt. Als ich, in der Rolle des Helden, ein Lied sang, lachte die Mehrzahl der Zuschauer im Saal. Es war ein glückliches, ein erfülltes Lachen. Ich hatte das Gefühl, nein, ich konnte sehen, dass die Zuschauer in diesem Moment genauso glücklich waren, wie es der Held an diesem Punkt der Geschichte war. Die Gesichter und dieses Lachen werde ich nie vergessen.
Die drei Rollen des Erzählers
Für die meisten Menschen im Publikum ist ein freier Erzähler ein Darsteller. Aber er ist ebenso Autor und Regisseur. Und selbst wenn ein Erzähler zuweilen als Darsteller improvisieren muss, so sind der ‚Autor‘ und der ‚Regisseur‘ die beiden kreativen Rollen des Erzählers. Und dieser kreative Teil, der für das ‚Erarbeiten‘ einer Geschichte notwendig ist, bereitet mir besonders viel Freude.
Der Autor
Eine bereits niedergeschriebene Geschichte wird in der Regel anders erzählt, als man sie vorlesen würde. Und das, obwohl der Inhalt nahezu unverändert bleibt. Anhand der Kriterien Dopplung, Spannung und Interaktion möchte ich euch zeigen, warum das so ist.
Eine Geschichte in Textform könnte man zwar genau so frei erzählen, wenn man sie denn zuvor auswendig gelernt hat, aber für das Publikum könnte das irritierend sein. Warum?
Im Text sind unter anderem mimisch/gestische Elemente beschrieben, die man beim Erzählen weglassen sollte, weil man sie ebenfalls mimisch/gestisch darstellt. Zum Beispiel ‚Sie sagte mit weinerlicher Stimme…‘. Da man aber schon mit weinerlicher Stimme spricht, könnte dieses ‚Erklären‘ dem Publikum zu viel sein.
Dann können dramaturgische Elemente hinzugefügt werden, um die Spannung zu erhöhen. So kommt zum Beispiel in ‚Sechse kommen durch die ganze Welt‘ der Läufer zehn Minuten vor der Königstochter ins Ziel. Wenn ich die Geschichte erzähle, wird es knapp ... sehr knapp …
Ebenso bietet das freie Erzählen die wunderbare Möglichkeit, die Zuschauer, egal welcher Altersgruppe, mit einzubinden. So kann man von der Textvorlage auch in der Form abweichen, in dem man zum Beispiel nicht gleich erzählt, warum die Prinzessin traurig ist. Man könnte auch das Publikum fragen: ‚Und die Prinzessin war traurig. Oooohhh! Was meint ihr, warum?‘ Und auf Basis der Reaktion des Publikums erzählt man die Geschichte dann weiter.
Zum Abschluss noch ein Wort zur Erarbeitung von individualisierten Geschichten. Hier entsteht, unter Verwendung bereits bestehender Motive, eine neue Geschichte. Diese Arbeit ist zwar aufwändig und erfordert einen gewissen Einfallsreichtum, macht mir aber außerordentlich viel Spaß.
Der Regisseur
Wenn eine Geschichte erzählt wird, entstehen Bilder in den Köpfen der Zuschauer. Je stärker die Bilder sind, umso intensiver wird die Geschichte empfunden. Um starke Bilder zu erzeugen, muss man sich über einige Punkte in Bezug auf die ‚Inszenierung‘ im Klaren sein. Wo platziere ich virtuell die Objekte aus meiner Geschichte im Raum? Zum Beispiel den See oder auch den Weg, auf dem die alte Frau in Richtung Süden läuft. Wo genau schaue ich hin, wenn ich zum Beispiel einen Dialog zwischen einem Prinzen und einem Drachen spreche? Wie bewege ich mich auf der Bühne? Deute ich eine bestimmte Geste nur an oder stelle ich sie pantomimisch exakt dar? Welchen Duktus soll die Erzählstimme haben? Wie konkret soll mittels Stimme, Gestik und Köperhaltung eine bestimmte Rolle charakterisiert werden? Und, und, und …
Der Darsteller
Eine frei erzählte Geschichte wird sowohl ‚mitgeteilt‘ als auch ‚dargestellt‘. Zur Stimme, die natürlich einen großen Anteil am Erzählen hat, kommen noch Mimik und Gestik hinzu. Es macht mir unheimlich viel Spaß, während einer Geschichte zwischen der Rolle des Erzählers und den Rollen der einzelnen Charaktere hin- und her zu springen. Meist bin ich so tief in den Charakteren, dass ich mit ihnen mitfühle. Ob als ängstliches Mäuschen in der Pfote eines Löwen oder als armer alter Mann, der gerade ein Kästchen mit Silber- und Goldstücken gefunden hat.
Außerhalb der Geschichten gibt es dann noch Situationen, in denen der Darsteller improvisieren kann. Diese meist amüsanten Situationen entstehen in der Regel als Folge der Interaktion zwischen Darsteller und Publikum.